
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll die in § 1 AGG genannten Personengruppen vor Schlechterbehandlung im Job, aber auch schon im Bewerbungsverfahren schützen. Eine Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität soll verhindert werden.
Besonderheiten gelten bei Schwerbehinderten, die sich bei öffentlichen Arbeitgebern bewerben. Durch einen Verstoß gegen die Anforderungen des § 165 SGB IX wird gem. § 22 AGG vermutet, dass eine Benachteiligung vorlag. Der Arbeitgeber muss dann das Gegenteil beweisen, er hat also die Beweislast. In § 165 SGB IX heißt es:
"Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen."
Eine Einladung ist nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.
Der nachfolgende Artikel arbeitet dies anhand eines Gerichtsurteils auf. Obwohl ich den Sachverhalt und die Begründung des Urteils schon stark vereinfacht habe, wird man trotzdem alsbald merken, dass die Thematik komplex ist und man mehrere Gesetzesquellen im Blick behalten muss. Damit will ich folgendes bewirken: Als eventuell Betroffene oder Betroffener lohnt es sich, genau zu überprüfen. Und öffentliche Arbeitgeber sollen sensibilisiert werden, dass man sich ganz genau an die Regeln halten muss und was schon ein kleiner Fehler auslösen kann. Insbesondere kleinere Kommunen oder Gemeinden, die die Sache noch immer etwas hemdsärmelig angehen, stolpern oft.
Verstößt der Arbeitgeber gegen die Benachteiligungsverbote, kann der oder die Benachteiligte gem. § 15 AGG Schadensersatz von bis zu 3 Monatsgehältern verlangen. Bei 3.500,00 EUR brutto sind das schon 10.500,00 EUR.
So in einem Fall, der vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen ausgetragen wurde und durch das Gericht nahezu bilderbuchmäßig aufgearbeitet wurde (VG Sigmaringen, Urteil vom 10.02.2023 - 7 K 4878/20). Gleiches gilt jedoch auch für das Arbeitsrecht, denn keine anderen Grundsätze gelten für Bewerbungsverfahren der öffentlichen Arbeitgeber für Angestelltenverhältnisse.
Aus § 165 Satz 3 SGB IX folgt, dass schwerbehinderte Bewerber auf eine von einem öffentlichen Arbeitgeber ausgeschriebene Stelle bei einem mehraktigen Auswahlverfahren Anspruch darauf haben, dass sie so lange im Auswahlverfahren verbleiben, bis die letztverbindlich behördenintern über die Auswahl entscheidende Stelle einen eigenen Eindruck von der Eignung des schwerbehinderten Bewerbers gewinnen kann.
Was war passiert?
Die Gemeinde (später: die Beklagte) schrieb eine Stelle des stellvertretenden Hauptamtsleiters aus. Darauf bewarb sich der Bewerber (später: der Kläger). Er hatte die Qualifikationen und wies auf seine Eigenschaft als Schwerbehinderter hin. Die Behinderung führte im Übrigen nicht dazu, dass er in irgendeiner Art in seiner Arbeits- und Belastungsfähigkeit für den gehobenen Verwaltungsdienst eingeschränkt wäre.
Entscheidungsträger für die Einstellung war letztlich der Gemeinderat. Dieser überließ jedoch dem Bürgermeister die Vorauswahl.
Der spätere Kläger wurde zu einem Gespräch mit 6 anderen Bewerbenden eingeladen. Dort stellte er sich dem Bürgermeister und der Hauptamtsleiterin vor. Für das weitere Bewerbungsverfahren wurde er sodann nicht mehr berücksichtigt. Mit 4 der verbliebenen Bewerbenden wurde sodann ein zweites Vorstellungsgespräch vereinbart. Von diesen wiederum wurden letztlich zwei Bewerbende dem Gemeinderat vorgestellt. Dem späteren Kläger wurde lediglich mitgeteilt, dass die Stelle an einen Mitbewerber ging.
Er beschwerte sich und verlangte Akteneinsicht, die er auch erhielt. Er begehre die geforderte angemessene Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, gemäß § 164 Abs. 1 und 2 SGB IX in Verbindung mit §§ 1, 3, 7 AGG, weil er, als schwerbehinderter und fachlich geeigneter Bewerber, auf seine ernsthafte Bewerbung hin, von der Beklagten entgegen § 165 S. 3 u. 4 SGB IX rechtswidrig nicht ordnungsgemäß, sondern nur zum Schein und somit von vornherein völlig chancenlos zum persönlichen Vorstellungsgespräch eingeladen worden sei. Der Inhalt des Vorstellungsgesprächs sei nicht hinreichend dokumentiert worden, weshalb das Bewerbungsverfahren für ihn nicht nachvollziehbar und damit auch nicht justiziabel sei. Ferner habe die Beklagte die Ausschreibung ihrer unbefristeten Beamtenstelle entgegen der Verpflichtung des § 165 Satz 1 und 2 SGB IX nicht der Bundesagentur für Arbeit gemeldet. Mit seiner Bewerbung habe er gegenüber den Mitbewerbern als fachlich geeigneter Bewerber schon deshalb zum Zuge kommen müssen, weshalb seine Ablehnung die Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Beklagten belege.
Die Beklagte argumentierte dagegen. Außerdem rügte sie, dass der Kläger gem. § 15 Abs. 4 AGG die Frist zur Geltendmachung von 2 Monaten versäumt hätte.
Das Gericht sah tatsächlich drei Verstöße im Bewerbungsverfahren. Aber nur zwei führten zum Schadensersatz, wobei nur einer tatsächlich mit der Schwerbehinderung zu tun hat.
1.
Nach § 165 Satz 1 SGB IX melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig nach einer erfolglosen Prüfung zur internen Besetzung des Arbeitsplatzes freiwerdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze.
Dieser Pflicht ist die Beklagte nicht nachgekommen.
Dass aber der Kläger als Schwerbehinderter trotzdem auf die Stelle stieß und zum Gespräch eingeladen wurde, widerlegt die oben angesprochene Vermutung (§ 22 AGG), dass der Arbeitgeber durch unterlassene Meldung an die Arbeitsagentur bewusst schwerbehinderte Bewerbende benachteiligen wollte.
2.
Der Kläger wurde aber nicht ordnungsgemäß zum Vorstellungsgespräch geladen. Dabei kann man zusammenfassen: Umfasst das Bewerbungsverfahren mehrere "Stufen" von Bewerbungsgesprächen, so muss der schwerbehinderte Bewerber grundsätzlich zu allen Gesprächen eingeladen werden. Die einzige Ausnahme wäre, wenn der Arbeitgeber sich bereits im vorherigen Bewerbungsgespräch aufgrund dieses Vorstellungsgesprächs einen umfassenden Eindruck darüber verschaffen kann, ob der Bewerber über die fachliche und persönliche Eignung für die Stelle verfügt. Dieses Verständnis ist zudem unter Betrachtung von Art. 5 S. 1 RL 2000/78/EG und Art. 5 III UN-BRK geboten, da nur so die Gleichbehandlung gewährleistet und die Diskriminierung verhindert werden kann (BAG, NZA 2021, 200 (204).
In diesem Fall konnte der Arbeitgeber dies nämlich nicht machen. Beim ersten Vorstellungsgespräch war "nur" der Bürgermeister und seine Hauptamtsleiterin anwesend. Die finale Entscheidung über die Besetzung fällte jedoch der Gemeinderat. Da der Gemeinderat erst gar nicht eine Chance hatte, den Kläger kennen zu lernen und sich von ihm zu überzeugen, verstößt dies gegen die Pflicht zu einem ordnungsgemäßen Vorstellungsgespräch. Es wird also vermutet, dass der Kläger benachteiligt wurde. Im Prozess konnte sich die Beklagte als Arbeitgeber nicht exkulpieren, also gerade nicht nachweisen, dass keine Benachteiligung vorlag. Es schrieb:
"Denn schwerbehinderte Bewerber haben grundsätzlich auf § 165 Satz 3 SGB IX fußend einen Anspruch darauf, dass sie auch bei einem mehraktigen Auswahlverfahren quasi bis zum Schluss im Bewerbungsverfahren bleiben (können). Hierdurch sollen schwerbehinderte Bewerber die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern, insbesondere soll die Chance gegeben sein, den Arbeitgeber bzw. Dienstherrn von ihrer Eignung zu überzeugen (vgl. BAG, Urteil vom 27.08.2020 - 8 AZR 45/19 - NZA 2021, 200 Rn. 41 und VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.05.2020 - 4 S 672//20 - juris Rn. 13). Damit ist die Stelle gemeint, die für den Arbeitgeber bzw. Dienstherrn die endgültige Entscheidung über die Einstellung trifft. Danach ist eine Einladung zum (weiteren) Vorstellungsgespräch nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt (BAG, Urteil vom 27.08.2020 - 8 AZR 45/19 - NZA 2021, 200 Rn. 39 f.).
Hiervon durfte die Beklagte nach dem erfolgten Vorstellungsgespräch mit dem Kläger nicht ausgehen. Denn der Kläger erfüllte formal die Anforderungen, die die Beklagte ihrer Stellenausschreibung einschließlich der konstitutiven Auswahlkriterien zugrunde gelegt hat. Allein hierauf kommt es an. Dass dem Kläger nach dem Dafürhalten des Bürgermeisters der Beklagten nach dem im Vorstellungsgespräch gewonnenen Eindruck die persönliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle fehlte, ist hingegen unerheblich. Denn hiervon hätte sich (wenn überhaupt) – s.o. – der Gemeinderat überzeugen müssen."
3.
Außerdem hat die Beklagte das Auswahlverfahren falsch dokumentiert, nämlich warum und wie von den ersten 7 Bewerbenden 4 weitergekommen sind. In der Akte war hierzu wohl gar nichts zu finden. Damit wirkte die Entscheidung über das Fortkommen der Bewerbenden willkürlich und damit durch das Gericht nicht nachvollziehbar.
Zwischenergebnis: Alleine aufgrund von formellen Fehlern stand dem Kläger daher letztlich Schadensersatz in Höhe von 3 Brutto-Monatsgehältern zu.
4.
Auf was es sodann nicht mehr ankam, aber hätte auch nicht beweisen werden können, war, ob der Kläger auch im Bewerbungsverfahren eine materielle Benachteiligung des Klägers aufgrund eines Merkmals des § 7 in Verbindung mit § 1 AGG beziehungsweise seiner Schwerbehinderung erfahren hat.
Hierzu heißt es im Urteil:
"Auch nach durchgeführter mündlicher Verhandlung kann die vom Kläger aufgestellte Behauptung, er sei in diskriminierender Art und Weise zum Vorstellungsgespräch nur zum Schein eingeladen und von vornherein als ungeeignet disqualifiziert worden, nicht gefolgt werden. Ferner kann nicht mit der gebotenen Sicherheit angenommen werden, dass der Kläger aufgrund seiner Schwerbehinderung und seines Alters nach dem ersten Vorstellungsgespräch nicht weiter als tauglicher Bewerber geführt wurde.
Dass der Kläger nur zum Schein zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden wäre, hat der Kläger zwar wiederholt behauptet, aber nicht – in der gebotenen Weise, § 22 AGG – mit Indizien belegt. Allein Ablauf und Inhalt des Vorstellungsgesprächs oder spätere Verlautbarungen der Beklagten könnten solche Indizien vermitteln. Solche sind für die Kammer aber nicht greifbar. Zum Vorstellungsgespräch hat sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung – auch auf wiederholte Nachfrage – lediglich dazu eingelassen, dass dieses nicht den Anforderungen an ein strukturiertes Auswahlgespräch mit konkreten Fragen zu den konstitutionellen Leistungsmerkmalen aus der Stellenausschreibung entsprochen hätte. Danach befragt, worin er eine Diskriminierung seinerseits sehe, hat der Kläger lediglich ausgeführt, dass er hierauf nicht antworten müsse, weil die Beklagte ihrer Dokumentationspflicht nicht nachgekommen sei."
Man kann also hier durchaus sagen: Hätte der Kläger hier nicht die gesetzliche Umkehrung der Beweislast (grundsätzlich hat jeder das, was einem im Prozess einen Anspruch begründet, erst einmal zu beweisen) und zusätzlich die eindeutige Regelung des Gesetzes, hätte er eine tatsächliche Diskriminierung nicht beweisen können. Der Arbeitgeber konnte lediglich nicht eindeutig beweisen, dass trotz formeller Mängel gerade keine Benachteiligung erfolgte. Andererseits erfolgte durch den Gesetzgeber hier eindeutig eine Beweislastverteilung zulasten des (öffentlichen) Arbeitgebers, da diesem aufgrund seiner sozialen Mächtigkeit, seiner Mittel und Personal die Dokumentation und Erfüllung der Vorgaben zuzumuten ist.
Der "Daily Business" des Arbeitgebers muss einfach sein, dass diese Vorgaben und Anforderungen verinnerlicht und angewandt werden. Solange der öffentliche Arbeitgeber sich nicht seiner Stellung und seiner Pflichten hieraus bewusst wird, und trotzdem Bewerbungsverfahren wie vor 20 Jahren durchführt, wird es Menschen geben, die das Verfahren genau überprüfen.
Sofern Sie meinen, dass sich auch bei Ihnen ein Fehler im Bewerbungsverfahren ereignet hat, so melden Sie sich gerne, damit wir den Vorgang überprüfen können.